illusion von Einfachheit
Neulich sagte ein guter Freund: “Ich bin einfach ein hoffnungsloser Romantiker. Ich will, dass wenn man sich unsterblich verliebt und es dann immer so bleibt, wie am ersten Tag.” Wir unterhielten uns ursprünglich darüber, warum in seiner letzten Beziehung die gegenseitige Wertschätzung nach 1,5 Jahren plötzlich nicht mehr so da war wie zu Beginn. All die Leichtigkeit war verloren gegangen. Wie ist das passiert?
Im Grunde ist es doch überall das gleiche: verliebt bleiben wie am ersten Tag, ein Job, der einen erfüllt und stets Spaß macht, Freunde, die immer easy-going und spannend sind. Irgendwie herrscht die Illusion vor, dass all das einfach ist und leicht von der Hand geht, haben wir erst einmal das/die/den Richtige(n) gefunden. Man denkt, es sei dann unkompliziert, dass man nicht drüber nachdenken müsse und dass alles von allein läuft. Und tut es das einmal nicht, kann man den Job, den Freund oder den Partner (im Notfall) einfach austauschen – denn scheinbar ist es nicht ‚meant to be‘, sonst wäre es ja nicht so schwer.
Mit Sicherheit tun uns manche Menschen nicht gut. Bestimmt sind manche Bekanntschaften nur für eine kurze Dauer bestimmt und um Platz für neue Menschen in unserem Leben zu schaffen, müssen wir auch immer wieder Menschen loslassen. Aber: wenn wir tiefe, starke und überdauernde Beziehungen möchten, kostet das viel Kraft und Energie. Es wird komplizierte Situationen, es wird schwere Phasen und es wird ein Meer an Emotionen geben.
Warum glauben wir, dass das so ist? Wir glauben an das Yin und Yang Prinzip. Wer oben voller Stolz und Freude auf dem Berg steht, hat sich vorher mühsam den Weg nach oben erkämpft. In unserem Zusammenleben war nicht immer alles rosig, aber als Mitbewohner konnten wir nicht voreinander davonlaufen und mussten Konflikte austragen – zumindest, wenn wir weiterhin zusammenleben wollten. Sich zu öffnen und mitzuteilen, war am Anfang schwer und wir beide mussten das erst lernen. Irgendwie geht man immer davon aus, dass der andere die eigenen Gefühle lesen können muss – vielleicht sogar, ohne dass man sie jemals erklärt hat. In Wahrheit ist jedoch genau das die Herausforderung: man muss sich selbst verstehen und sich dann trauen, dem anderen genau das zu erklären. Heute ist das die Basis, auf der unsere Fernbeziehung gründet. Sich nah zu bleiben, wenn man zusammen wohnt, ist einfach. Beieinander zu bleiben, wenn man auf verschiedenen Kontinenten lebt und sich das Alltagsleben komplett auseinander entwickelt, ist eine große Challenge.
Was uns geholfen hat, war die bewusste Auseinandersetzung damit, was wir von unserer Freundschaft erwarten, warum wir miteinander befreundet sein wollen und wie das im Alltag aussehen soll. Ohne es zu merken, haben wir eine Art Regelwerk aufgestellt, an dem wir uns orientieren können, wenn es einmal schwierig wird: Wir möchten beste Freundinnen bleiben, weil wir beide dieses Commitment mit ganzem Herzen möchten. Wir möchten uns gegenseitig die Freiheit geben, uns weiterzuentwickeln – auch wenn das bedeutet, dass man eine Zeitlang in ganz verschiedene Richtungen geht. Wir möchten uns mit Offenheit begegnen, um uns weiterhin gegenseitig inspirieren zu können. Wir möchten uns auf Augenhöhe treffen und uns gegenseitig mit höchstem Respekt behandeln. Wir möchten miteinander grenzenlos leben, auch die letzten Mauern abbauen, unsere Egos nicht zwischen uns kommen lassen. Wir möchten uns gegenseitig helfen, die beste Version unserer Selbst zu werden, erinnern uns an unsere Stärken und verwenden unsere Schwächen niemals gegen uns.
Verliebt sein gibt es auch in Freundschaften, aber erst wenn diese Phase einmal vorüber ist, wird es spannend. Dann beginnt die Phase, in der man sich zurückerinnern muss, was man man am anderen zu Beginn so anziehend fand, warum man sich “verliebt” hat. Meistens wird man genau von den Seiten angezogen, die man selbst nicht hat (oder glaubt nicht zu haben). Dieses Anderssein ist inspirierend und das sollte es auch im Laufe der Zeit bleiben. Es ist keine Schwäche und darf kein Grund sein, den anderen ändern zu wollen. Viel schöner ist es doch, sich zu komplementieren, ein Team zu werden, in dem man sich ergänzt.
Wenn man jemanden zum Mittelpunkt in seinem Leben machen möchte, sollte man sich klar machen, wer dieser Mensch wirklich ist. Ansonsten verrennt man sich in zu romantischen Idealen, Illusionen, bei denen man die Schattenseiten ausblendet und sich dann irgendwann fragt, warum der Mensch oder die Beziehung nicht mehr so ist, wie zum Zeitpunkt des Kennenlernens. Wenn man jemanden neu kennenlernt, sieht man zunächst nur die Seiten, die für alle sichtbar sind. Erst mit der Zeit bekommt man Einblick in die ganze Komplexität einer Person. Und genau diese Komplexität sollte man aneinander schätzen, denn sie ist es die genau diesen Menschen ausmacht. Sie ist der Kern von gegenseitiger Inspiration und langfristiger Wertschätzung. Das ganz große Ziel von Freundschaft – vielleicht von allen Beziehungen – ist nicht Gleichheit, sondern Gemeinschaft.